Aktuell in der ISR

Neuer Anwendungsbereich von § 42 AO bei Umstrukturierungen und Spaltungen? (Eilers/Roderburg, ISR 2022, 303)

§ 42 AO ist die graue Eminenz im deutschen Steuerrecht. Immer präsent, aber selten wirklich angewendet, bleiben diese Vorschrift und die mit ihr verbundenen Risikoabwägungen immer im Blick der Berater und Steuerpflichtigen, aber auch der Finanzverwaltung. Das Interesse und auch die Nervosität aller Beteiligten steigt regelmäßig, wenn die Rechtsprechung (und insbesondere die Rechtsprechung des I. Senats des BFH) den Anwendungsbereich des § 42 AO neu absteckt. Kernfrage ist dabei, ob und in welchem Umfang Sachverhalte auch noch nach § 42 AO beurteilt werden können, wenn diese bereits die Filter spezialgesetzlicher Missbrauchsverhinderungsnormen beanstandungslos durchlaufen haben. Die Autoren widmen sich diesen Abgrenzungsfragen nach einer kurzen Darstellung des Status quo anlässlich der jüngsten Rechtsprechung zu §§ 12 und 15 UmwStG. Am Ende des Beitrags steht ein Ausblick auf die mögliche Entwicklung eines europäischen Missbrauchsstandards.


I. Gegenwärtiger Stand der Abgrenzungsdiskussion

II. Die jüngere Rechtsprechung des BFH

1. Entscheidungsüberblick

a) BFH vom 9.6.2021

aa) Sachverhalt

bb) Entscheidung des BFH

b) BFH vom 11.8.2021

aa) Sachverhalt

bb) Ansicht der Finanzverwaltung

cc) Entscheidung des BFH

c) BFH vom 17.11.2020

aa) Sachverhalt

bb) Entscheidung des FG Hessen

cc) Entscheidung des BFH

d) BFH vom 23.4.2021

aa) Sachverhalt

bb) Entscheidung BFH

2. Fazit zur Entwicklung der Rechtsprechung

III. Ausblick: Entwicklung eines europäischen Missbrauchsstandards

1. Primärrecht

2. Sekundärrecht

3. Folge für künftige Richtlinien


I. Gegenwärtiger Stand der Abgrenzungsdiskussion

Der gegenwärtige Stand der Diskussion hinsichtlich der Abgrenzung zwischen spezialgesetzlicher Missbrauchsvermeidungsnormen und der allgemeinen Missbrauchsklausel des § 42 AO lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Ausgehend von seinen Entscheidungen zum Dividendenstripping im Jahr 1999 sowie zu den sog. „Dublin Docks“ im Jahr 2000 formulierte der BFH den Grundsatz, dass der allgemeinen abgabenrechtlichen Missbrauchsnorm des § 42 AO 1977 im Anwendungsbereich spezialgesetzlicher Missbrauchsnormen in der Regel keine eigenständige Bedeutung zukommt. Der Gesetzgeber reagierte im Rahmen des Steueränderungsgesetzes 2001 das erste Mal auf diese Rechtsprechung, indem er in § 42 AO einen zweiten Absatz einfügte, nach dem § 42 AO anwendbar blieb, „wenn seine Anwendbarkeit gesetzlich nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist“. Auf diese Weise wollte der Gesetzgeber laut Gesetzesbegründung klarstellen, dass auch bei Vorhandensein spezialgesetzlicher Regelungen ein Anwendungsbereich von § 42 AO verbleibt. Von Seiten des BFH wurde dieser Versuch einer geltungserhaltenden Klarstellung allerdings nicht anerkannt. So stellte er u.a. in einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 fest, dass die Neuregelung in § 42 Abs. 2 AO schlicht leerlaufe, da es „aufgrund des spezialgesetzlichen Wertungsvorrangs bereits an einem Missbrauchsvorwurf i.S.d. § 42 Abs. 1 S. 1 AO fehle“.

In einer Entscheidung vom 18.12.2013 stellte der BFH zu § 42 AO in der bis zum Jahressteuergesetz 2008 geltenden Fassung noch folgendes fest:

Hat der Gesetzgeber ein missbrauchsverdächtiges Feld gesichtet und durch eine Spezialvorschrift abgesteckt, legt er für diesen Bereich die Maßstäbe fest und sichert eine einheitliche Rechtsanwendung, die Gestaltungssicherheit gewährleistet. Sind in einem konkreten Einzelfall die Voraussetzungen der speziellen Missbrauchsbestimmungen nicht erfüllt, darf die Wertung des Gesetzgebers nicht durch eine extensive Anwendung des § 42 Abs. 1 AO a.F. unterlaufen werden. Verbleiben Rechtsfolgelücken, ist es allein Aufgabe des Gesetzgebers, der mittels der speziellen Missbrauchsbekämpfungsnormen die Grenzen des Missbrauchs gezogen hat, diese zu schließen.

Dieser Rechtsprechung konnte man eine Sperrwirkung spezialgesetzlicher Missbrauchsvorschriften entnehmen, d.h. die Anwendung von § 42 AO (und damit die Aufgriffskorrektur) auf Gestaltungen, die den Tatbestand einer Missbrauchsvermeidungsnorm nicht erfüllten, war gesperrt und ausgeschlossen. Dies galt u.a. auch für das Verhältnis von § 42 AO a.F. zu § 7 AStG und § 50d Abs. 3 EStG. Der BFH hat diese Sperrwirkung auch jüngst noch einmal in seiner Entscheidung zu § 15 Abs. 2 UmwStG (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 02.09.2022 08:01
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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